Protokoll des Workshop 6

„Gemeinsam Zukunft gestalten“- Wie lassen sich Erfahrungen in der Gemeinschaft Tempelhof auf Entwicklungsprozesse im städtischen Quartier übertragen?
Mit Dr. MarieLuise Stiefel

Die Gestaltung des WIR im Quartier

Auf der Suche nach dem Glück im städtischen Leben kommt recht schnell die Frage auf, auf welche Art und Weise Gemeinschaft gestaltet werden kann. Im sechsten Workshop, angeleitet von Frau Dr. MarieLuise Stiefel, kreisten die Gedanken der Teilnehmer*innen oftmals um die Fragen, wie man zu einer lebendigen Gemeinschaft werden kann, was diese zusammenhält und wie sie dann gestalterisch und zum Wohle Aller im Stadtleben agieren kann.

Blickpunkt und Lernfeld für die Glückssuche ist hierbei eine kleine Ortschaft im Württembergischen Norden mit großen lebendigen Visionen und Werten – Gemeinschaft Schloss Tempelhof.

Dieses Projekt als lebendiger Beweis für ein glücklich machendes Zusammenleben wurde im Laufe des Mittags vorgestellt und als Inspirationsquelle für das Entwickeln und Weiterformen des eigenen Quartiersleben genommen. Gleichzeitig wurde auch darüber gesprochen, inwieweit diese besondere Art des Miteinanders im städtischen Leben wiederum umgesetzt und gelebt werden kann.

Das besondere an der etwa sechs Jahre alten Dorfgemeinschaft sind ihre eigenen gesellschaftlichen Visionen, die in vielen Punkten anders sind als die normale Zielsetzung einer städtischen Politik.

Diese umfassen folgende Werte: Gemeinschaft, Vielfalt, All-Leader-Prinzip, Beziehungs- und Kommunikationskultur, Verantwortung, Ökonomische Transformation und Nachhaltigkeit.

Die Vision einer „Gemeinschaft“ ist demnach nicht ein Zustand, der zufällig durch Zusammenleben entsteht, sondern ein Wert, der durch das Bemühen Aller erst entwickelt wird.

Inwieweit das „Bemühen Aller“ zu einer Basisdemokratie führt, konnten die Teilnehmer*innen dieses Workshops an einem Selbstversuch erfahren. Denn der Verlauf des Workshops konnte von jedem Einzelnen durch ein 6stufiges Konsensverfahren mitbestimmt werden. Dieses Verfahren wird in der Gemeinschaft Tempelhof in allen politischen Belangen durchgeführt. Anders als bei Mehrheitsentscheidungen gibt es beim Konsensverfahren keine Gewinner oder Verlierer. Es wird versucht, ein möglichst kraftvolles Ja zu einem Vorschlag zu finden, indem Bedenken dagegen angehört und in ggf. im Lösungsvorschlag berücksichtigt werden. Ein einziges Votum stoppt den weiteren Prozess, aber auch, wenn zu viele Ja-Stimmen mit schwerwiegende Bedenken verbunden sind, wird ein Vorschlag zurückgezogen, weil dies anzeigt, dass er noch nicht tragfähig ist. Hier zeigt sich oft so etwas wie „kollektive Weisheit“.  Die Vorbereitung einer Entscheidung dauert dadurch länger, aber das kraftvolle Einverständnis Vieler ist die Basis dafür, dass ein Vorhaben tatsächlich umgesetzt wird.  Das Bewusstsein, dadurch wirklich selbst zu entscheiden und zu gestalten, stärkt sowohl die Eigenverantwortung wie  das Gemeinschaftsbewusstsein des Einzelnen. Doch dieses beglückende Gefühl über die Wichtigkeit der eigenen Meinung und Gestaltungskraft kostet viel Energie und noch mehr Zeit, wie Frau Dr. Stiefel gleichzeitig betont. Auch hier zeigt sich wieder das „Bemühen Aller“.

Auch aus der Teilnehmerrunde gab es die kritische Stimme, „nicht schon wieder abstimmen“ zu wollen, da schon die täglichen Entscheidungen im städtischen Leben von einem viel abverlangen.

Aber nicht nur die Abstimmungen geben den Menschen in Tempelhof ein WIR Gefühl. Auch Begegnungen, das praktische Tun und sogenannte „WIR Prozesse“ lassen einen gemeinsamen Geist entstehen. Solch ein „WIR Prozess“ macht es möglich, sich im Spiegel von Anderen wahrzunehmen. Dies erfordert bewusste Innenschau, Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich authentisch zu zeigen. Damit aus einer Gruppe eine Gemeinschaft werden kann, braucht es die Bereitschaft und Willenskraft des Einzelnen, an sich zu arbeiten und daran wiederum wachsen zu können.

In der Überlegung, ob dies im Quartiersleben umsetzbar ist, ist gleichsam die Frage zu stellen, ob die innere Bereitschaft da ist, seine eigene Persönlichkeit und die der Anderen genau anzuschauen und vor Selbst- und Fremdreflexion nicht zurückzuschrecken. Eine empathische Haltung sowie Geduld und Offenheit gegenüber gedanklich Neuem und auch Ungewohntem sind hierbei wichtig. Wenn dies gelingt, kann ein WIR große gemeinsame Stärke entwickeln, in der jeder miteingebunden ist und neue Entwicklungschancen können im Quartiersleben wirklich Realität werden.

So wie die Gemeinschaft Schloss Tempelhof durch diese vielfältigen Gemeinschaftsprozesse von dem deutschlandweit bekannten Neurobiologen Gerald Hüther als einen „Ort der Potenzialentfaltung“ bezeichnet wird, kann dies auch im eigenen Quartiersleben durch das „Bemühen Aller“ entstehen.

 

Nach der Vorstellung und dem Bericht über die  dort gemachten Erfahrungen bezüglich der WIR Bildung, wurden die vorgegebenen Fragen der Fachtagung von den Teilnehmer*innen beantwortet. Darin sollte auch widergespiegelt werden, welche Gedanken und Impulse von außen in das eigene Quartiersleben integriert werden können.

 

In der Beantwortung der Fragen wiederholte sich das grundlegende Bedürfnis nach einem öffentlichen Raum, um eine Plattform für Quartiersgespräche zu schaffen. Denk-Räume für richtungsweisende Dialoge und Impulse seien genauso wichtig wie Treff-Räume, um vielleicht sogar ein „Ort der Potenzialentfaltung“ im Quartiersleben werden zu können.

Gleichzeitig lag ein gedanklicher Schwerpunkt auf der Kommunikation mit der Stadtverwaltung, die einen großen finanziellen aber auch administrativen Einfluss auf mögliche Projekte der Gemeinschaft im Quartier hat. Eine wohlwollende Offenheit dieser gegenüber den Anliegen und Ideen der Anwohner*innen benötigen die Initiatoren, um einem Projekt den richtigen Anstoß geben zu können. Eine Orientierungshilfe beim Finden der richtigen administrativen Anlaufstelle sei hierbei auch sehr hilfreich und wird deswegen von Vielen gewünscht und gebraucht.

Gleichsam wären das Schaffen von Kommunikationsstrukturen und das Einhalten gemeinsamer Spielregeln wichtig, um einen Prozess zusammenzuhalten. Eine Unterstützung von Initiativen bezogen auf die Vermittlung von „sozialen Tools“ wäre förderlich. Auch das Verteilen von Verantwortung sowie die Vernetzung von einzelnen städtischen Initiativen sei für einen gelingenden Entwicklungsprozess entscheidend.

Ein Beispiel für eine lebenswerte Stadtteilentwicklung im Raum Stuttgart ist der Verein Chloroplast, welcher seinen Standort auf dem Walz Areal in Weilimdorf hat. Lang ungenutzte Gewächshäuser, Werkstätten und Büroräume bieten viel Platz für vielfältige Nutzungen. Urban Gardening, Kulturprojekte aber auch die Einbindung von geflüchteten Menschen sind Schwerpunkte in der Wiederbelebung der Örtlichkeit. Zwei Tagungsteilnehmer, die das dort entstehende Projekt mitleiten, berichteten von der jungen Entstehungsgeschichte und dem gestalterischen Potenzial wie auch räumlichen Möglichkeiten. Dieses und viele andere Projekte in und um Stuttgart zeigen, wie Menschen gemeinsam Ideen entwickeln und die dafür nötige Energie zusammenbringen, diese umzusetzen, um aktiv eine lebendige Gemeinschaft und Nachbarschaft zu gestalten.

Diese Beispiele zeigen, dass das „Bemühen Aller“ im städtischen Quartiersleben auf unterschiedlichen Ebenen von großer Bedeutung ist, um eine „Soziale Plastik“, wie auch der Künstler Joseph Beuys die sozial-künstlerische Gestaltung des Gemeinwesens bezeichnete, gemeinsam kreieren zu können. Dieser Prozess würde auch die „Entfremdung zum Anderen“ überwinden, was nach den Regeln des Bruttonationalglücks in Bhutan zu einer glücklicheren Gesellschaft führt.

von Louise Wiegmann